Mein kleiner brauner Kaktus

Erwachsen wird man in kleinen Schritten. Erst bekommt man beim Metzger keine Scheibe Wurst mehr. Dann schliesst man eine Zahnzusatzversicherung ab. Und wenn man sich um seine Pflanzen kümmert, ist man endgültig Erwachsen. Für den letzten Schritt brauchte ich lange. Es gelang mir – zum Glück – besser, meine drei Kinder am leben zu halten, als meine drei Topfpflänzchen. Ich kann mich schliesslich nicht um alle kümmern.

Wenn der Florist meines Vertrauens sagte, ein Gewächs sei unkaputtbar, hat er nicht mit mir gerechnet. Genau wie ich, dämmerten meine Pflänzchen stumpfsinnig ihrer Verwesung entgegen. Ich habe sie entweder in einem Wasserfall ertränkt oder in so homöopathischen Dosen gegossen, dass sie innerhalb kürzester Zeit eingingen oder den Freitod wählten. Jedes Gewächs, das das grosse Pech hatte, in meiner Wohnung zu landen, ereilte früher oder später dieses Schicksal. Entsetzte Besucher meines Pflanzen-Hospizes musste ich immer mit den Worten „die schlafen nur“ beruhigen.

Doch dann kam Corona. Wie alle, sass auch ich in dieser Zeit viel zu Hause und sah irgendwann nur noch Dinge, die ich verbessern konnte. Ich habe Wände neu gestrichen, Möbel umgestellt und meinem Mann die Haare geschnitten. Als alles erledigt war, blieb nur noch eins: meine Pflanzen.

Ich fing an, sie zu giessen, denn das soll bei knusprigen Pflanzen helfen. Eine meiner drei Pflanzen ging sofort ein. Wahrscheinlich war der Schock zu gross, als ich plötzlich mit der Giesskanne vor ihr stand. Doch die anderen beiden überlebten und siehe da: sie gedeihen prächtig. Dafür musste ich weder Akupunktur anwenden, noch mit meinen Pflanzen meditieren – sondern nur regelmässig und in angemessenem Umfang giessen. Ich hab ihn also doch, den grünen Daumen. 

Euphorisiert von meinem Erfolg blieb es natürlich nicht bei den beiden Zimmerpflänzchen. Das wäre ja, als würde Picasso malen nach Zahlen spielen. Nein, unsere Wohnung hat sich seither in einen urbanen Dschungel verwandelt. Wenns so weiter geht, müssen meine Kinder bald ausziehen, um Platz für die Pflanzen zu machen. Ich kann mich schliesslich nicht um alle kümmern.

Erschienen in der LIEWO am 17.7.2022

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