Wie eine Hyperschallrakete fliegt der angeknabberte Bleistift meiner 9 Jährigen durch das Zimmer und verfehlt mich nur knapp. „Mir egal, wenn ich die Prüfung verkacke!“ murrt sie frustriert. Ich kann mich sehr gut reinversetzten in dieses Mädchen, das zwar körperlich vor ihrem Matheheft sitzt, geistig aber ganz weit weg ist. Es scheint, als hätte sie nicht nur meine unsagbar vielen, unsagbar guten Eigenschaften geerbt, sondern auch meine grenzenlose Abneigung gegen das Lernen.
Ich war das, was vielen Lehrern Gänsehaut bereitet, aber nicht im positiven Sinne. „Desinteressiert“ war das Wort, das regelmässig in meinen Schulzeugnissen stand. Beim ertönen der Schulglocke schaltete mein Gehirn in den standby-Modus, bis die Schulstunde vorbei war. Mein Französischbuch war vollgekritzelt mit schlüpfrigen Zeichnungen von Luc Tonnerre, Rechengesetze waren nur unverbindliche Vorschläge und mein Religionsbuch war so unberührt wie die Mutter Jesu. Für mich war Unterricht wie Olympia – dabei sein ist alles. Dieses Motto galt auch für die vielen Prüfungen, die für mich immer völlig überraschend kamen.
Am meisten hasste ich Mathe. Wenn in der Klasse alle darüber diskutierten, ob das Ergebnis 31 oder 32 ist und ich auf -1724 kam, hätte ich mich am liebsten mit meinem Zirkel erstochen. Wenigstens war ich mit meinem Frust nicht alleine, denn fünf von vier Menschen hassen Mathe.
Wenn es nötig war, konnte ich aber rechnen. So habe ich gegen Ende jedes Semesters herausgefunden, welche Note ich benötige, um nicht sitzen zu bleiben – und mit welchem Mindestaufwand ich diese Note erreiche. Wenigstens in einer Sache war ich maximal motiviert: im Minimalismus.
Erschienen in der LIEWO am 19.4.2022