Morgen, Kinder, wird’s nichts geben

Kling, Glöckchen, klingelingeling,
der Paul krüagt schlechti Luna,
der Bomm isch hür a riesa Ding,
wo er jetzt söt bestuna.

Unterm viela blinka,
loht sich a Tännile erahna,
ma könnt fast dra erblinda,
isch s´Coco-Loco, tät ma mahna.

Dr Paul, überzügt kinderlos,
muas all Johr weder lieda,
d´Frau fiert Wiahnacht rigoros,
es loht sich net vermieda.

Ir Stuba ufm Sofa,
sitzt drum die halb Verwandtschaft,
im Nebazimmer d´Gofa,
hän Wiahnachtsliader agmacht.

Last Christmas tönt us allna Boxa,
im Wiedergabemodus,
dr Paul könt scho bim Intro kotza,
und schaltet s´Hörgrät us.

Der kliene Beat well wia immer,
ned mit da andra hüsla,
er isch alla im Nebazimmer,
bim Bomm am umazüsla.

Pauls Neffe hät wohl im Affekt,
a neui Flamma mitbrocht.
Dia hät sich jetzt im Bad versteckt,
wo sie a Tütli rocht.

Der Duft vo Hanf und Walnuss,
stiegt am Paul in Zinka,
das isch für ihn der Startschuss:
sofort afanga trinka.

Der Höhepunkt vom Wiahnachtsobet,
isch ned vor Nichte s’Miniröckli,
sondern, drum wört fliessig probet:
da Kind ihr furchtbars Musikstöckli.

An Lärm, am Paul platzt fast dr Grind,
hät selta so fest gletta,
will sich, wenns ned bald fertig sind,
erhänga am Lametta.

Doch endlich gits was feins zum Essa,
Wiahnachtsgans, glasiert.
Der Paul darf s´Lobliad net vergessa,
hät er scho istudiert.

Der Schwoger isch jetzt Vegetarier
isst nur Härdöpfelstock,
spüalts ahi mit veganem Bier,
hät sos uf gär nix bock.

D‘Nichte frogt zmol „isch des Bio?“
und hät der Brota avisiert.
„Nei der isch vom Migrolino,
a Schnäppli, reduziert!“

Der Neni redt nostalgisch,
vo damals, wo er jung gse isch,
borniert und recht rassistisch,
morn kehrt mas weder untern Tisch.

D‘Stimmig isch ned am brodla,
dr Sekt numa am sprodla,
und i da Hodla,
sind Tannanodla.

Pauls Bruader, homosexuell,
kunt erst am kurz vor zehni,
und goht danoch oh weder schnell,
dank homophobem Neni.

Bim Kerzaständer nebs der Tür,
selbst bastelt, provisorisch,
spielt der Beat medem Für,
ned nur metaphorisch.

Jetzt hörens d´Kirchaglocka,
und zühen ihre Tschopa a,
no d´Wiahnachtskerzli usdrocka,
und Liachter alle usmaha.

Ir Kircha denn bir heilig Mess,
trefft ma frommi Christa,
und nochm ganza Wiahnachststress,
oh manchi Atheista.

Ufm Hamweg, Gopfridstutz,
brennt s´ganze Hus wia Zunder,
häts viellecht a Leitig putzt?
Kaputt, der ganze Plunder!

Der kliene Beat, wo all züslet,
hät sona Vermuatig,
s´letzte Flämmli wört usbislet,
denn stellt er sich, ganz muatig.

Der Paul fühlt sich sehr selig,
weil alle Instrument,
denkt er voll Diabolik,
sind bim Für verbrennt.

Da Kind ihr Musiziera,
wört des Johr ned passiera.
Des isch a unverhofftes End:
er freut sich himmelhochjauchzend!

Erschienen in der LIEWO am 20.12.2021

Das wird man ja wohl noch schreiben dürfen

„Lucia, wetsch an Mohrakopf?!“ rief ich über den Spielplatz – und zuckte zusammen. Hab ich das wirklich gerade laut gesagt? Ich erntete böse Blicke. Die Leute mussten denken, ich hätte die Pillenausgabe geschwänzt. Vor Schreck hab ich den Schokokuss gleich selbst gegessen.

Die Erklärung für diesen politisch inkorrekten Versprecher ist einfach. Wenn ich Heute mit meinen Kindern Dialekt spreche, benutze ich Wörter von früher. Ich sage Brünnili zum Spülbecken und ziehe ein plumpes „hä?“ einem charmanten „Entschuldigung, das habe ich nicht verstanden“ vor. So kam es wohl auch zum „Mohrakopf“, denn das letzte mal, dass dieses klebrige Erzeugnis für mich Relevanz hatte, lebte ich noch in Liechtenstein, wollte mal ein Einhorn werden und sagte „Mohrakopf“ dazu. Mein Dialekt ist wie eine Zeitkapsel, in der mein Wortschatz von damals archiviert wurde.

Inzwischen sind über 30 Jahre vergangen. Ich lebe in Berlin, habe akzeptiert, dass ich nie ein Einhorn werde und der „Mohrakopf“ gilt ohne Frage als rassistischer Begriff. Das weiss man in Liechtenstein – und noch mehr weiss man das am Schauplatz besagter Szene: in Prenzlauer Berg, dem links-liberalen, von Akademikern besetzten und manchmal nervigen Pionier in Sachen politische Korrektheit. Als Person mit Menstruations- und Migrationshintergrund habe ich Verständnis für die neuen Ausdrucksweisen und halte mich für gewöhnlich daran.

Allerdings gibt es manchmal Bezeichnungen, bei denen ich mich frage, ob es die Sprachpolizei nicht etwas zu weit treibt. Das schwer erziehbare Kind wurde erst zum verhaltensgestörten Kind, dann zum verhaltensauffälligen Kind und als das immer noch nicht half, zum verhaltensoriginellen Kind. Bei diesem Ausdruck denke ich allerdings an einen kleinen, hochbegabten Pianisten – und nicht an einen unzähmbaren Rotzlöffel. Und überhaupt: wäre es nicht besser, am Problem zu arbeiten, anstatt ständig hübschere Worte für alles zu suchen? Ich bin oft nur noch verwirrt und weiss gar nicht mehr, was ich noch sagen darf. Ausser natürlich: hä?

Erschienen in der LIEWO am 7.9.2021

Chlorifizierung

Ich stehe mitten im Wellenbad. An meinen Armen hängen drei Kinder, für deren Überleben ich in den nächsten Stunden verantwortlich sein werde. 50% der Besucher des Wellenbades sind unter zehn Jahre alt und 100% der unter Zehnjährigen pinkeln ins Becken. Keine Frage: Gründe, den Wasserpark zu hassen, gibt es genug. Und nichts erfreut mich mehr, als der Hass auf Dinge, die man lieben sollte.

Über meine Aversion gegen das Bibi-und-Tina-Intro könnte ich ein Buch schreiben. Der Geschmack von Anis entlockt mir immer wieder leidenschaftliche Hasstiraden. Und meine Abneigung gegenüber Clowns ist meine Religion. 

Doch der Tag im Wasserpark, den ich so hassen wollte, war leider geil. Alle Gedanken über das Urin in den Wellen sind verschwunden, als diese mich sanft hin- und herschaukelten. Die dreissigminütige Wartezeit bei den Rutschen verzeiht man während der zehnsekündigen Fahrt danach. Und wenn man auf dem glitschigen Boden ausrutscht, fällt man mit etwas Glück direkt ins nächste Wasserbecken.

Wir hatten Spass. Aber wie es eben ist, wenn alle aufgeputscht, uneinsichtig, hochemotional und von drei Kugeln Eis überzuckert sind: keiner will den Tag beenden. Doch irgendwann ist es auch den Kindern gelungen, mich zum Gehen zu überreden.

Erschienen in der LIEWO am 27.8.2021

Kreuz- und Querdenker

D´Marlies goht is Internet,
und scrollt durch ihra Facebook-Feed.
Die meista News verstoht sie net,
was tuan oh immer all so gschid.

Putin, Biden, Past Franziskus,
findet sie zum gähna.
S´Kardashians ihra Zirkus,
söt ma meh erwähna.

Ufzmol: an Post vom Vaterland,
der Lockdown wört verschärft.
Des isch jetzt aber allerhand,
merkt niemert dass das närvt?

Sie denkt as Gspröch vo vor zwei Stund,
med ihrem Chef, am Dr. iur.
Hät gset, das säg ihm alles z´bunt,
Corona isch nix als Zensur.

„D´Regierig well üs überwacha,
das Virus isch a Lügagschicht,
mit Mikrochips und sotig Sacha,
bis d´Gsellschaft drunter zemabricht.

Mir muan üs besser wehra
soviel wia möglich schimpfa,
niemert muas üs belehra,
und los di blos ned impfa.“

D´Marlies findet das ned schlecht,
isch grührt vom Dialog.
Wer so viel wass vom Stiftigsrecht,
der isch oh Virolog.

Dazua no, findet d´Marlies,
der Lockdown goht ad Niara.
Maska, Abstand, Homeoffice,
sie hört sich selb studiara.

A Hinterfroga vo Chef´s Thesa,
isch drum oh net erforderlich.
Vor Gricht wört immer alls bewesa,
für sie wär das nur hinderlich.

Sie öffnet d´Kommentarfunktion,
und fangt oh scho a tippa,
schriebt d´Wort vom Chef mit Präzision,
bewegt dazua oh d´Lippa.

Acht Usruafezeicha,
setzt sie dahinter,
das söt glob reicha,
denn drockt sie uf enter.

Und do luag her,
der best Beweis:
ihr Kommentar,
krüagt 85 Likes.

Der Paul, der Pius und d´Herta,
sind alle oh Experta.
Was d´Marlies schriebt klingt huara guat,
so dass mas schnell no lika tuat.

Und jeder wo sich liecht loht lenka,
siaht Marlies schöna Texterguss.
Und wer kas ihna scho verdenka:
Da meista gfallt der huara Stuss.

Erschienen in der LIEWO am 10.2.2021

Stayin´ alive

„2020 war genau so, wie ich es mir vorgestellt habe“ sagt keiner. Die meisten sagen hingegen, dass es totaler Mist war. Aber beleidigen wir mit dieser Behauptung nicht den Mist? Doch irgendwann werden wir auch auf dieses Jahr in nostalgischer Verklärung zurückblicken. Ich tu das schon jetzt, denn bei allem Übel hatte das Jahr auch gute Seiten:

– Du bist weiser geworden. Du weisst jetzt, dass dich dein Nachbar für eine Toilettenpapierrolle töten würde 

– Du kannst dank der Atemschutzmaske soviel Knoblauch essen, wie du willst

– Deine Atemschutzmaske passt dir auch noch am Ende des Jahres, also hast du nicht zugenommen

– Du weisst dank Zoom, wie das Wohnzimmer deines Chefs aussieht. Und seine Unterhose

– Du schätzt Dinge, die früher alltäglich waren. Für ein Päckchen Hefe würdest du sofort den Strassenpreis von Kokain bezahlen

– Du bist plötzlich ein Held, wenn du zu Hause bleibst und vor der Glotze sitzt

– Du duschst gelegentlich, um dich lebendig zu fühlen. Warst du davor noch platt und schlecht gelaunt, bist du danach platt, schlecht gelaunt und duftest nach Rosenblüte 

– Du trägst nach Ewigkeiten mal wieder Jeans und fühlst dich, als wärst du auf dem Weg zum Wiener Opernball 

– Deine Unterhosen mit Wochentagen sind jetzt nützlicher, als je zuvor 

– Du warst das halbe Jahr über die Lehrerin deiner Kinder und freust dich auf deine baldige Verbeamtung

– Wenn dein Kind beim Distanzunterricht das Lösungswort „AFHAIP“ hat, ist die Aufgabe zu deiner vollsten Zufriedenheit erledigt

– dass Peter 43 Packungen Nudeln kauft, gibt es nicht mehr nur im Rechenzauber-Heft der 2a 

– Du musst dich Dank Corona nicht mehr mit unangenehmen Themen wie dem Klimawandel und der Flüchtlingskatastrophe auseinandersetzen

– Du findest es zwar traurig, dass ältere Menschen sterben, aber andererseits sichert das unser Rentensystem 

– Du schaltest das Licht am Ende des Tunnels aus wirtschaftlichen Gründen aus

Erschienen in der LIEWO am 12.1.2021

#OMG

So geschah es in einer dunklen Nacht im Jahr -1, da zogen Maria und Josef geleitet von Google Maps nach Bethlehem. Sie fanden kein Airbnb und buchten auf booking.com einen Stall mit nur einem Stern. Maria, die sich in der SSW 41+3 befand, erwartete jeden Moment ihr Kind. Josef ahnte, dass er nicht der Vater war, da entsprechende Gerüchte auf Facebook die Runde machten. Die Wehen setzten ein und Josef unterstützte die Geburt mithilfe eines Youtube-Tutorials. Maria gebar im sanften Licht der iPhone-Taschenlampe einen Jungen – Dieter – durch Stallgeburt. Sie bekam überraschenderweise sofort einen Krippenplatz und legte ihn rein.

Zur selben Zeit hielten drei Hirten Nachtwache und trackten ihre Schafe via GPS auf sheperd.com. Am Himmel erschien das Hologramm eines Engels und überbrachte die frohe Botschaft der Geburt des Heilands. Die sensationsgeilen Hirten jauchzten „Heilandzack“ und machten sich auf den Weg nach Bethlehem. 

Dort gingen sie in den Stall, brachten Gold, Weihrauch und mytoys-Spielsachen und berichteten von den Worten es Engels. Das Kind wurde nun doch nicht Dieter, sondern Jesus genannt. Die Hirten bezeichneten sich fortan als „die drei Influencer aus dem Morgenland“. Sie posteten ein Selfie mit dem Jesukind auf Instagram und verbreiteten die frohe Botschaft mit den Hashtags #jesugeburt und #omg. Damit ging das Startup „Christentum“ erfolgreich viral. 

Erschienen in der LIEWO am 8.12.2020

Vom Pföh verweht

Der Reto wohnt im Liachtasta,
mit Sehnsucht noch der Wält.
Sitzt immer nur Daham, alla,
zum reisa fählt ihm s´Gäld.

Er glaret ufa Gänglesee,
so klar, so blau, so voll,
set sich und sinem Fernweh:
„Passt scho do, momoll“

Kurz druf siaht er uf Instagram,
was andri loht verzücka,
Miami, Sydney, Amsterdam,
scho spannender als d´Sücka.

Drum fangt er a spära,
Und zellt jeda Stutz,
bald muas er num plära,
und haut ufa Putz.

Und stell dr vor,
uhuara schö,
noch knapp zwei Johr,
hätr Gäld wia Hö.

Er verkoft sin Töff,
und liest a Reisebroschürli,
es isch kan Blöff
er hät a Ticket ab Züri.

Kurz vorm Abflug,
uf dr Alp Gafadura,
trifft er uf d´Gertrud,
dia gfallt ihm uhuara.

Hät s´Ticket zerressa,
und sini Plän verworfa.
alli Sehnsücht vergessa,
und mitr Gerti sich troffa.

Sini Welt isch ganz rosa,
und d´Gerti so schö.
er well Vögel zualosa,
bi Räga und Pföh.

Er ritzt a Herzli uf jeda Bomm,
vo Balzers bis zum Ruggeller Riat,
damit oh seher alli verstohn,
der huara Tubel isch verliabt.

Noch acht Wocha ebba,
fallt ihm was uf:
Gerti hört num uf reda,
holt kaum no schnuf.

A knackigs Füdli,
Bei bis zum Hals,
Nur im Oberstübli.
stimmt numa alls.

d´Ziet vergoht,
manch Liabi verjöhrt.
Der Reto verstoht:
d´Gerti isch gstört.

Er will weder weg,
sich möglichst bald trenna.
Hawaii oder Steg,
no weg vo dera Henna.

Der richtig Moment
isch no ned ko,
wenn d´Gerti ned pennt,
hängt sie überm Klo.

Plötzlich hät er an Verdacht,
und glei druf a Schöckli:
letzthin hän sie umagmacht.
Ohni Nahkampfsöckli.

Gopfridstutznochamol,
der Schwangerschaftsstreifa,
ach hätt er sichs dozmol,
nur könna verkneifa.

Der Test isch positiv,
a Bobbi kunnt bald,
dr Schock sitzt tüf,
so isches jetzt halt.

Sobalds irgendwia goht,
tuan sie sich vermähla.
für an Goldring ischs zspot,
git an Rehfödlagäla.

Amna Morga am Zehni,
wört Theresa gebora.
Hät viel vom Neni,
aber vor Mama d´Schnora.

Mit dr Theresa,
i der Schesa,
lauft er z´Tresa,
öber d´Wesa.

Und er frogt sich,
wär sin Traum oh verhallt,
häti er d´Gerti,
a em Obet ned kn… knuddlet.

Erschienen in der LIEWO am 2.11.2020

Zweikassengesellschaft

Als Moses die Steintafeln mit den zehn Geboten erhielt, muss ihm eine auf den Boden gefallen und zerschmettert sein. Denn ein wichtiges Gebot fehlt: „Du sollst dich, wenn im Supermarkt die zweite Kasse öffnet, wieder dort einreihen, wo du warst“. Nun haben wir das Drama, denn hier begehen fast alle von uns grosse Sünden.

Neulich stand ich mit meiner Tochter an der Hand und meinem Sohn in der Babytrage an der Supermarktkasse an. Die Schlange zog sich bereits bis zu dem tiefgekühlten Rosenkohl, den nie jemand kauft. Nach einer Weile war der Kleine in der Trage dabei, aufzuwachen und seinen Hunger über die für Babies üblichen Kommunikationswege zum Ausdruck zu bringen. Doch alles halb so wild, schliesslich befanden wir uns bereits im vorderen Teil der Schlange. Da ertönten die drei magischen Worte über die Lautsprecherboxen des Supermarktes: „Zweite Kasse, bitte“. Toll, dachte ich und bückte mich mitsamt Baby in der Trage runter zum Einkaufskorb. Als ich mich im Schweisse meines Angesichts wieder aufrichtete, hat sich bereits die ganze Meute an uns vorbei zur zweiten Kasse gedrängelt. Verdutzt stand ich da, meine Tochter kuckte zu mir hoch und sagte „dürfen die das?“ Ich streichelte mit meiner Hand tröstend über ihren Kopf, verwies auf das fehlende elfte Gebot von Moses, woraufhin sie fragte „Was ist eine Moses?“ und der Kleine anfing zu weinen.

Ich versuchte, Blickkontakt mit wenigstens einem der vielen Sünder der zweiten Schlange herzustellen und  kuckte wie ein geschlagener Hund. Keiner hat zu mir rübergesehen. 

Erschienen in der LIEWO am 6.10.2020

Hand(y) aufs Herz

Jede Generation an Eltern hat ihre Fehler gemacht. Heute wissen wir, dass wir beim Schuhe kaufen nicht die Füsse unserer Kinder röntgen müssen und dass wir unser Baby besser in der Höhle verstecken, wenn ein Säbelzahntiger in der Nähe ist. Aber heisst das, wir machen alles richtig? Ich glaube nicht.

Wenn ich auf dem Spielplatz sitze, fällt mir eines sofort auf: Smartphones. Mindestens jedes zweite Elternteil starrt darauf, anstatt sich mit den Kindern zu beschäftigen. Natürlich bin auch ich gelegentlich eine davon. Es sollte eigentlich eine Handyannahmestelle vor jedem Spielplatz geben, an der man seine Kontakte und Facebook-Freunde in guten Händen weiss. Ich würde meins auf jeden Fall abgeben. Denn auch wenn ich mir vornehm, nicht aufs Handy zu kucken, erwisch ich mich doch immer wieder dabei. Und kaum bin ich online, nimmt eine seltsame Verkettung von Klicks seinen Lauf. Obwohl ich nur kurz kucken wollte, obs gleich regnet, sehe ich mir 15 Minuten später ein Video an, in dem ein Leguan furzt. Die Minuten dazwischen lassen sich meist nicht rekonstruieren.

Es gibt einen Konkurrenzkampf um unsere Aufmerksamkeit: Kinder gegen Smartphones. Unsere Sprösslinge müssen denken, dass wir diese kleinen, seelenlosen Geräte mindestens so lieben, wie sie. Neulich habe ich in einem Eltern-Ratgeber gelesen, dass man sein Handy auf dem Rücksitz beim Baby platzieren soll, damit man seinen Nachwuchs nicht im Auto vergisst. Was für ein schrecklicher Ratschlag. Wie soll ich denn während ich Auto fahre Snapchatten?

Erschienen in der LIEWO am 9.9.2020

Man nehme ein Küchenmesser…

Es gibt Gruppenaktivitäten, die von der Gesellschaft geliebt, aber von mir gehasst sind. Radtouren, Kegelreisen und Brettspielabende sind für mich verabscheuenswürdige Konstrukte einer vergnügungssüchtigen Gesellschaft, die direkt aus der Hölle kommen. Die Königsdisziplin im vermeintlich schönen Miteinander ist aber definitiv das gemeinsame Kochen.

Bevor ich zu einem Kochabend geh, auf dessen Anwesenheitsliste mehr als mein eigener Name steht, würde ich in eine Schiffsschraube schwimmen. Oder zu einem Brettspieleabend gehen. Gemeinsames Kochen birgt mindestens soviel Konfliktpotenzial, wie die Frage nach der besten Schaffensphase von David Bowie oder eine Talkrunde bei Maischberger zum Thema Tempolimit. 

Manche schneiden die Zwiebel in Stückchen, andere in Streifen, so mancher schmeisst sie als Ganzes in die Pfanne. Manche würzen mit Thymian, Rosmarin und Kreuzkümmel, andere mit Aromat. Manche essen Mäuseportionen, andere sind gemäss Rezept vier Personen. Manche leben vegan, andere würden sich am liebsten in einen Schlafrock aus Bacon wickeln. Was ist nun richtig? Über Geschmack lässt sich nicht streiten – wissen wir eigentlich alle, und tun es doch. Und das ist das Problem.

Also lasst es doch einfach mit dem gemeinsamen Kochen. Geht besser ins Restaurant und wenns nicht schmeckt, könnt ihr einen Dritten dafür panieren: den Koch. Der hat nämlich alles zu scharf gewürzt – Quatsch, zu mild – Gehts noch? Viel zu scharf – Du hast doch keine Ahnung – Meine Güte, Sven! Was willst du mit dem Messer?

Erschienen in der LIEWO am 11.8.2020